Keine Weihnachtsgeschichte

Verfasst am 01.01.2020 von

Mittwoch, 25. Dezember 2019, 12.45 Uhr. Statt wie gewohnt jeden 1. Weihnachtsfeiertag in meiner Gastro-Küche zu verbringen, betrete ich heute das kürzlich neu eröffnette Fitnessstudio im Nachbarort. Es ist naturgegeben nichts los, weil die Menschen zu dieser Uhr- und Jahreszeit eher ausgiebig Festtagessen  zelebrieren statt gezielt den eigenen Körper zu trainieren. Mit einer Ausnahme, mit der ich echt nicht gerechnet habe: Eine junge, attraktive und sehr gut austrainierte Rhönerin ist auch noch hier. Und macht ein knallhartes Feiertags-Workout.  Ich bin so geflasht, das ich weder „Hallo!“ sagen kann oder gar „Frohe Weihnachten!“ wünsche. Das soll schon mal was heißen. Mein Gott, manchmal bin ich echt schüchtern.

Es ist ein merkwürdiges – aber sehr schönes Gefühl. Trainieren statt Kochen. Ich muss mich auch nicht daran gewöhnen. Denn das ist vollkommen o.k..

Eigentlich  stand jetzt hier an dieser Stelle ein anderer Text, der mir aber nicht gefallen hat. Und ich auch nicht weiß, ob das, was ich da über nicht stattgefundene Gänseessen, Kalkulation, Wertschätzung und die Gastronomie mit Zukunft geschrieben habe, wirklich jemanden interessiert. Stattdessen schreibe ich hier eine kleine, sehr persönliche Geschichte auf. Über eine ganz besondere Begegnung in diesem Jahr 2019:

Es ist Anfang Mai 2019, als unsere Tochter Maxima ihr Praktikum auf dem Bio-Bauernhof der Familie May antritt. Wir haben gemeinsam diesen Betrieb dafür ausgesucht. Weil er etwas ganz Besonderes ist. Und das Besondere sind die Menschen, die dort leben und arbeiten (genau in dieser Reihenfolge). Ich kenne Klara und Dietmar May noch aus den Anfängen des Biosphärenreservats Rhön Anfang der 90er Jahre. Sie betreiben eine Bio-Schweinezucht, bauen Getreide an, das z.B. zu Dinkelreis veredelt wird und haben noch ein Hühnermobil samt Ziegen zur Jagdvogelabwehr. Dietmar hatte den Betrieb von seinem Vater übernommen und ihn dann zum Schrecken der Familie auf ökologischen Landbau umgestellt. Die Anfangsjahre sind hart, denn auch in seinem kleinen Dorf Junkershausen in der fränkischen Rhön schüttelt man über ihn und seine Klara nur den Kopf. Führte doch sein Vater eine erfolgreiche, ertragreiche Landwirtschaft, die wuchs und wuchs. Dietmar stellt auf Direktvermarktung um. Ein harter Weg. Damals. Ich lerne ihn auf einem Rhöner Bauernmarkt kennen und erwerbe ein Glas Bratwurstfülle im Glas von überragender Qualität. Seitdem bin ich Kunde.

Dann der Schicksalsschlag: Im Jahr 2015 werden bei einem verheerendem Großbrand alle Stallungen und Scheunen vernichtet. Das Wohnhaus konnte nur mit viel Glück und großartigem Einsatz der Feuerwehr gerettet werden. Ein Lebenswerk ist vernichtet. Über Nacht! Dietmar und Klara wissen nicht, wie es weitergehen soll. Noch in der Nacht informieren sie ihren Sohn Christian über das schreckliche Unglück. Christian, der in Frankfurt als Unternehmensberater arbeitet und lebt (genau in dieser Reihenfolge) und seine Frau Rebecca, die im Kulturamt der Stadt Frankfurt einen guten und sicheren Job hat, müssen sich entscheiden. Wollen sie gemeinsam mit ihren Eltern diesen Hof wieder aufbauen?  Als Christian Rebecca fragt, ob sie mit ihm zurück nach Junkershausen gehen will antwortet die junge, sympathische Frau: „Ich wollte doch schon immer Bio-Bäuerin werden!“

Vier Jahre später bin ich jetzt mit Maxima hier. Es ist Montagfrüh, kurz vor halb 8. Den Dietmar habe ich schon lange nicht mehr gesehen, wir fallen uns in die Arme. Strahlend kommt Rebecca hinzu und kümmert sich sofort um Maxima. Plötzlich sagt Dietmar: „Jürgen, gestern Nacht hat die erste Muttersau im neuen Stall 12 Ferkel geworfen. Komm, wir gehen mal rüber in den Stall.“ Eigentlich habe ich noch einen Folgetermin, muss sofort wieder zurück. Die strahlenden Augen des Bauern begeistern mich und meine Pünktlichkeit ist jetzt nicht mehr so wichtig.

Wir gehen in den offenen Stall, der eher einer modernen Wellness-Anlage gleicht. Es fehlen nur noch Liegestühle und Sonnenschirme. Dietmar strahlt. Und ich bin beeindruckt, wie wohl sich hier Tier und Mensch fühlen. Jetzt redet Dietmar mit Tränen in den Augen über die verheerende Nacht im November 2015. Als er den Brand bemerkte, hat er vor lauter Aufregung noch nicht einmal den Notruf abgesetzt. Im Schlafgewand sind seine Frau und er sofort in die Gummistiefel gestiegen und haben versucht, so viele der elend quiekenden Schweine zu retten, wie in der Kürze der Zeit möglich war.

Sein Versicherer hat ihm daraufhin vorgeworfen, nicht den Traktor und andere Maschinen zuerst gerettet zu haben. Denn das sind ja echte Werte – im Gegensatz zu solch ein paar armen Schweinen. Dietmar heult fast. Ich bin schockiert. So krenzerschockiert eben. Denn in unserem verkackten System wundert mich echt nichts mehr. Ich sage zu Dietmar: „Du hast alles richtig gemacht. Du hast das zuerst gerettet, was DIR am wertvollsten war. Nämlich das Leben deiner Schweine.  Das ist deine DNA. Deine Versicherer und Banker haben zum Thema Werte eben ganz andere Vorstellungen. Krass!“

Was bin ich wert, wenn ich keine Werte mehr besitze?

Diese Frage treibt mich schon seit einiger Zeit um. Irgendwann stellte ich sie mir auf der Fahrt zu einem Vortrag. Ich habe ja alles. Es fehlt mir (für meine Art zu leben) an nichts. Aber: Materielle Werte sind nicht wirklich Werte. Sie sind käuflich. Austauschbar. Sie bezeugen Status. Sie sind die Indizien des Unechten.

Viele Menschen kaufen mit Geld, das ihnen nicht gehört, Dinge, die sie nicht brauchen um Menschen zu beeindrucken, die sie nicht mögen.

 

Viele Zivilisationskrankheiten des modernen Managers und Unternehmers sind darauf zurückzuführen. Burnout und Depressionen sind vorprogrammiert, wenn wir keine wirklichen Inhalte mehr haben. Wenn die Leere im Körper regiert. Es geht um das schnelle Geld, um die maximale Ansammlung von Vermögenswerten in relativ kurzer Zeit. Und dann? Wo bleibt der Sinn?

Ich wünsche euch allen ein friedvolles, sinnreiches und wertvolles Jahr 20/20! Lasst uns diese Welt gemeinsam ein klein bisschen besser machen.

Euer Jürgen

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