Sonntag, 10. Dezember 1989, 14 Uhr
Ich muss die Fortsetzungs-Story zum Thema „Powerpoint und Anders sein“ aus aktuellem Anlass unterbrechen. Mir ist nämlich gerade noch rechtzeitig ein historisches Datum eingefallen…
10. Dezember 1989. Für Seiferts ist heute ein großer Tag. Vielleicht der Wichtigste in der über 900jährigen Geschichte unseres kleinen Dorfes. Die politischen Veränderungen im Ostblock zeigen heute ihre Spuren hier bei uns vor Ort. Das ganze Dorf läuft in Richtung Grenze zur DDR, die ja nur 1 Kilometer entfernt liegt. Denn heute dürfen wir rüber! Rüber nach Birx, unser Nachbardorf am Himmel. Das wir immer sehen konnten – und doch für uns unerreichbar war. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, als wir alle auf der anderen Seite des Zaunes stehen. Dort, wo vor einigen Jahren noch Minen lagen. Hunderte von Menschen tummeln sich hier, umarmen sich und freuen sich einfach. Erst Jahre später beobachte ich auf dieser Wiese ein Minensuchtrupp. Unglaublich! Zum Glück passiert an diesem historischen 10. Dezember 1989 nichts.
Ich selbst bin seit knapp einem Jahr jetzt zu Hause und schmeisse den Laden gemeinsam mit meiner Mutter. Ein hartes Jahr liegt hinter mir. Bin täglich in der Küche im Einsatz und trauere noch ein wenig der schönen Zeit in Heidelberg nach. Doch heute Nachmittag hält mich nichts. Ich will nach Birx. Und will von Birx nach Seiferts schauen. Oben in Birx angekommen, reicht mir ein freundlicher Mensch eine Flasche Bier. Es ist das Rhönbier aus Kaltennordheim und ich nehme einen kräftigen Schluck aus der Pulle. Das war mutig, denn das Zeug ist erstens viel zu warm und zweitens schmeckt es irgendwie ganz komisch. Auf keinen Fall nach Bier! Der freundliche Mensch beobachtet mich. Jetzt einfach nichts anmerken lassen. Schlimm genug, das die hier jahrzehntelang so was trinken mussten. Ich schaffe es tatsächlich, die Flasche (unter Aufsicht) leerzutrinken. Und dabei noch zu grinsen. Menschen sind eben doch zu allem fähig…
Was ich bis dato nicht wusste: Ich sollte nur ein paar Monate später der erste Wessi-Wirt sein, der das Rhönbier vom Faß ausschenkt. Und es ist ein richtig gutes Bier geworden.
Wir dürfen nur nach Birx – aber ich bin jetzt neugierig geworden. Will weiter. Nach Frankenheim, 2 Kilometer entfernt. Ich schleiche mich davon und laufe über die straßenähnliche Verbindung weiter nach Frankenheim, das ja wesentlich größer ist als Birx. Alles Grau in Grau. Hier stinkts! Ich sehe auch keine Menschen. Gibt es hier ein Wirtshaus? Ich laufe in Richtung Kirche. Kein Wirtshaus zu sehen. Neben der Kirche steht ein altes graues Haus. Völlig hässlich und unscheinbar. Die Fensterscheiben sind von innen angelaufen. Geräusche dringen nach draußen. Daaas muss die Dorfwirtschaf sein! Ich trete ein. Der Laden ist voll bis unter die Decke. Viele Gäste allerdings auch. Und die meisten sitzen hier in Blaumännern. Eigentlich passend, obwohl heute Sonntag ist. Es wird wahnsinnig viel Schnaps getrunken. Die nächste Goldkrone-Flasche macht die Runde. Das Spiel heißt: „Vorletzter bezahlt!“ Unfassbar, welche Mengen an Alkohol hier im Minutentakt vernichtet werden. Und ich mittendrin! Es wird draußen dunkel. Mist. Ich muss zurück. Um 18 Uhr wird der provisorische Grenzübergang wieder dicht gemacht. Doch die Frankenheimer lassen den Langhaarigen jetzt nicht weg. Irgendwann haue ich unter dem Vorwand des Toilettenbesuchs ab. Laufe bei Dunkelheit wieder nach Birx. Hier ist die Party schon vorbei. Ich laufe weiter bis zur Grenze. Ist wieder dicht. Was mache ich denn jetzt?
Links unten fließt der Birxgraben und da entdecke ich eine Lücke im Zaun. Ich schlupfe hindurch und bin wieder im Westen. Und irgendwie ganz schön erleichtert. Ich laufe zügig nach Seiferts. Denn ich muss noch in die Küche. Habe nicht viel Zeit zum Reflektieren. Es war wie in einer anderen Welt. Das muss ich erst noch verarbeiten.
Auch 20 Jahre später noch…