Der kranke Wanderführer
Es gibt skurrile Situationen, die vergisst du nie! Erst recht nicht , wenn die Menschen um dich herum hektisch und nervös werden. Und wieder anfangen Erbsen zu zählen. Und jeder glaubt, das er nicht effizient genug ist. Das er irgendwas verpasst. Dann ist diese Geschichte wieder da. Die Story vom kranken Wanderführer…
Samstag, 28. August 2010, 11.30 Uhr. Ich bin unterwegs auf meiner Lieblings-Wanderstrecke der Rhön. Ich laufe die 15 Kilometer lange Hochrhön-Tour. Allerdings nicht alleine, denn im Schlepptau habe ich meine GenussWander-Gruppe aus dem nordrhönischen Schenklengsfeld. Nach dem Start an der Schornhecke erreichen wir nach knapp einer Stunde Wanderung über den 925 Meter hohen Heidelstein unseren ersten Rastpunkt: Den Kioks am Basaltsee. (Anm.: Ich hatte auf der Hotelfachschule in Heidelberg einen Lehrer, der konnte das Wort Kiosk nicht aussprechen. Seitdem sage ich selbst Kioks dazu…). Den Kioks-Pächter habe ich natürlich über unsere geplante Rast informiert und die Rostbratwürstchen für unsere knapp 20köpfige Gruppe liegen bei unserem Einlauf auch schon auf dem Grill.
Nachdem meine motivierte Gruppe sich auf die Würstchen freut und sich auch gleich diverse Kaltgetränke an diesem Kioks geholt hat, begrüsse ich den Kioks-Besitzer. Der ist ganz überrascht, das ich persönlich vor Ort bin und schaut mich staunend an. Dann sagt er die Worte, die mir niiieee määhr aus dem Kopf gehen werden: „Sag mal, ist dein Wanderführer krank?“ In diesem Moment schiessen dir tausend Gedanken durch den Kopf. Und trotzdem bleibst du sprachlos. So auch ich. Nach einer gefühlten Minute sage ich zu ihm: „Ich habe keinen Wanderführer. Das mache ich selbst!“ Jetzt ernte ich eigentlich nur noch gedankliches Kopfschütteln bei meinem Gegenüber. Und ich weiß, jede weitere Diskussion ist jetzt zwecklos. Denn ein Wirt hat entweder hinter seiner Theke zu stehen oder in der Küche rumzublöken. Aber Wandern? Auch noch an einem Samstag im August? Und das mitten in der Rhön???
Ich bestelle mir ein Hefe-Weißbier und setze mich zu meinen Gästen. Und bekomme doch lammsam ein schlechtes Gewissen. Mache ich etwas falsch? Lasse ich jetzt meinen Betrieb im Stich? Sind meine Mitarbeiter nicht in der Lage, auch ohne mich unsere (nicht mit mir wandernden) Gäste zu begeistern? Doch das positive Feedback meiner mitwandernden Gäste holt mich wieder auf den krenzerschen Boden zurück. Denn die wissen das sehr zu schätzen, das ich mit ihnen wandere. Und genau deshalb haben sie diese Tour auch gebucht. Und jede Menge Spaß dabei.
Es ist ein wunderbarer Tag, an dem wir auch zwei Rhönschaf-Herden begegnen.Und garantiert hat dieser Tag mir am meisten Spaß gemacht. Und genau das darf ja heute nicht mehr sein. Das man einen (seinen) Beruf mit Freude ausübt. Das man Emotionen zeigt. Das die anderen das sogar noch gut finden.
Heute wird doch alles eiskalt durchkalkuliert. Und jeder Kioks-Pächter weiß das. Den ganzen lieben Tag mit Gästen durch die Gegend latschen – um Gottes willen! Was könnte man in dieser Zeit in seinem Betrieb an Zusatzumsätzen generieren? Und genau DAS ist die falsche „Denke“. Ich finde, das jeder Tag, den ich mit tollen Menschen erleben darf, ein Geschenk ist. Und jeder Tag, an dem ich vor einer beschissenen Excel-Tabelle sitze, ein verlorener Tag ist. Ein Tag, der mich krank macht. Es mag ja sein, das mir dieser Tag mehr Geld in die Kassen spült. Aber garantiert nicht mehr Lebensqualität. Ich will leben – und nicht rechnen. Klar, auch ich muss rechnen. Aber es wird heutzutage doch übertrieben. Es ist doch auch kein Wunder, das immer mehr Menschen an Burnout und Depressionen leiden. Denn Kontrolle, Kalkulation, Erbsenzählerei, graue Anzüge und bunte Charts beherrschen den Menschen erst seit wenigen Jahrzehnten. Das ist der Mensch einfach nicht gewohnt – selbst wenn er so tut als ob…
Wir müssen zurück zu unseren Wurzeln. Und deshalb freue ich mich schon auf die nächste Wandertour mit meinen tollen Gästen. Und ich freue mich auch schon auf die klassische Frage meines Kollegen: „Ist dein Wanderführer krank?“